Psychische Gesundheit beeinflusst unser Wohlbefinden, unseren Arbeitsalltag und in Folge unser Gesundheitssystem. In welcher Intensität und wie man dieser Herausforderung effizient entgegenwirken kann, war einer der Themenschwerpunkte des PRAEVENIRE Gesundheitsforum Seitenstetten. Zum Thema „Mental Health & Work“ trafen nationale und internationale Experten zusammen und verfolgten ein einziges Ziel: Internationales Know-how und Erfahrungswerte zusammenzutragen und daraus entsprechende Modelle für Österreich zu erarbeiten. In wie weit diese im Anschluss im steirischen Bruck an der Mur mit regionalen Partnern umgesetzt werden, obliegt dabei den Gemeindevertretern selbst.
Die WHO definiert Gesundheit als „Zustand vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und daher weit mehr als die bloße Abwesenheit von Krankheit oder Gebrechen“. Gesund sein bedeutet also nicht nur beschwerdefrei zu sein, sondern auch, sich körperlich und geistig wohl zu fühlen. Der Stellenwert von psychischer Gesundheit und dessen enormer Einfluss auf das Gesundheitssystem wurde in einer Expertendiskussion, moderiert von Armin Fidler, Vorsitzender des PRAEVENIRE Boards, beleuchtet. John Bowis, Mitglied des europäischen Parlaments (EVP) und früherer Gesundheitsminister in England, lenkt zu Beginn die Aufmerksamkeit auf die größten Mängel des Gesundheitssystems im Bereich psychischer Erkrankungen:
„Patienten müssen in sämtliche verfügbare Einrichtungen und Services der jeweiligen Gemeinde eingebettet sein, was sie in der Regel nicht sind. Parallel sind die unterschiedlichen (öffentlichen) Institutionen nur unzureichend miteinander vernetzt. Außerdem kämpfen wir gegen die Ignoranz. Wir tendieren dazu, nicht ausreichend zuzuhören und wegzuschauen“, so der Europapolitiker.
Christopher Prinz, Experte für Arbeitsmarktpolitik der OECD, sprach Österreich anschließend ein gut dotiertes Gesundheitssystem, ein starkes Sozialversicherungssystem, einen vergleichsweise gesunden Arbeitsmarkt und ein gutes Schulsystem zu. „Dennoch haben wir in keinem dieser Systeme einen Fokus auf psychische Probleme und deren Auswirkungen. Ansetzen müssten wir bei Jugendlichen, Beschäftigten und Arbeitslosen. In Australien etwa gibt es Programme für Primär-und Sekundärschulen zur Förderung der psychischen Gesundheit. Bei der Arbeitsmarktintegration Jugendlicher muss festgehalten werden, dass jeder fünfte Arbeitnehmer mit psychischen Problemen konfrontiert ist. Betroffene sind häufiger krank und haben in der Regel längere Krankenstände. Bei Arbeitslosen wiederum sind psychische Probleme besonders ausgeprägt. Das ist dem AMS zwar bewusst, es hat aber weder Mittel noch Kompetenz um ausreichend zu helfen. In Dänemark setzt man erfolgreich mit Caseworkern mit Psychologenausbildung an. Belgien verwendet eigene Aktivierungsteams zur Betreuung Arbeitsloser mit psychischen Problemen. Ansätze gibt es also viele. Genug zu tun auch. Der Gedanke von PRAEVENIRE ist daher ein ausgesprochen sinnvoller“, so Prinz.
Behandlung muss bedarfsgerecht und individuell erfolgen
Auf das breite Spektrum psychischer Erkrankungen wies anschließend Michael Linden, Leiter der Forschungsgruppe Psychosomatische Rehabilitation an der Charite Berlin, hin: „Allgemein gilt die Meinung, dass der arbeitsbedingte Stress zunimmt. Dies ist mit zunehmenden Flexibilitätsanforderungen, Arbeitsverdichtung und computerkontrollierter Arbeit, bzw. Qualitätscontrolling, das den Druck erhöht, richtig. Dennoch bleibt die Zahl der Menschen mit psychischen Störungen gleich. Allerdings können psychisch Kranke die modernen Arbeitsanforderungen nur mehr begrenzt erfüllen. Zu fordern ist, auf den Personal Environment Fit zu achten. Nicht jeder Arbeitnehmer kann alles. Strategischer Ansatz für die Zukunft muss sein, leidensgerechte Arbeitsplätze oder sogenannte „Toleranzarbeitsplätze“, die auch Menschen mit Leistungsminderung eine Teilhabe am Berufsleben ermöglichen, zu schaffen bzw. zu erhalten“, so Linden.
Arbeitsfähigkeit muss erhalten werden
Psychische Erkrankungen spielen auch bei Leistungen zur medizinischen Rehabilitation wie bei Erwerbsminderungsrenten eine große Rolle. Das weiß Thomas Keck, Erster Direktor der Deutschen Rentenversicherung Westfalen. Auch und besonders Menschen mit psychischen Erkrankungen müssen möglichst lange und gesund im Erwerbsleben gehalten werden, da diese tendenziell früher ausscheiden. „Zum langfristigen Erhalt der Arbeitsfähigkeit gilt es, möglichst früh auf Betroffene zuzugehen, durch rechtzeitige Präventionsleistungen einem Reha-Bedarf vorzubeugen, durch individuelle Rehabilitation beim Verbleib im Erwerbsleben zu unterstützen und sich frühzeitig mit den vor- und nachbehandelnden Akteuren zu vernetzen. Case-Management gewinnt hier zunehmend an Bedeutung. Wir haben einige Projektideen entwickelt:
Wird etwa ein Antrag auf Leistung einer medizinischen Reha abgelehnt weil noch keine erhebliche Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit vorliegt, könnte vorbeugend und abhängig von gewissen Risikofaktoren eine Präventionsleistung angeboten werden. Hat man einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente gestellt, könnte man künftig nach einem umfassenden Assessment in ein berufs- und lebenslagenorientiertes Case-Management eingesteuert und durch ein gezieltes Unterstützungskonzept wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden“, so Keck.
Sonderstellung Kinder- und Jugendliche: Strukturierte Therapie notwendig
Mit einem interdisziplinären Team bietet Prim. Dr. Sonja Gobara, Ärztliche Leiterin des Ambulatorium Sonnenschein vom Sozialpädiatrischen Zentrum St. Pölten, Diagnose und multimodale Therapien für Kinder und Jugendliche mit Entwicklungsstörungen, Behinderungen und psychosozialen Auffälligkeiten in einem ambulanten Setting. „Ein wesentlicher Teil unserer Arbeit besteht darin, die Vernetzung mit dem psychosozialen Umfeld der Kinder – darunter Schule, Elternhaus, etc. – zu forcieren. Damit reagieren wir auf den sich ständig ändernden Versorgungsbedarf und den in Österreich vorherrschenden Versorgungsmangel. Ein großer Teil der psychosozialen Probleme von Kindern und Jugendlichen wird in der Laienversorgung abgehandelt. In der Zukunft muss die Gesundheitskompetenz von Kindern und Jugendlichen im Bereich psychischer Erkrankungen erhöht werden. Daher fordere ich die Definition und Implementierung von sektorenübergreifenden Versorgungspfaden vorzunehmen, Beratungsstellen für Familien (First Point of Service) einzurichten und kostenfreie Angebote zur Diagnostik sowie entsprechende Transitionsprozesse zu schaffen. In Bruck/Mur würde ich die Strukturen zur Etablierung eines Netzwerks entsprechender Einrichtungen forcieren“, so Gobara.
Verantwortung von Arbeitgebern und Unternehmen gefordert
Dr. Eva Höltl, Leiterin des Gesundheitszentrums der Erste Bank, legte anschließend dar, das sich der Umgang mit psychischen Erkrankungen in einem Unternehmen auch wirtschaftlich auszahlen kann – etwa mit Hilfe stufenweiser Reintegration nach langer oder schwerer Erkrankung. „Besonders Psychische Erkrankungen werden medial oft arbeitsplatzassoziiert dargestellt, wir finden aber alle Arten von Krankheiten in Unternehmen, psychische und körperliche. Krankheitsbedingte Leistungseinschränkungen können – müssen aber nicht – tätigkeitsrelevant sein. Es ist eine große Herausforderung für Unternehmen, ihre Mitarbeiter weitgehend entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit einzusetzen. Wer im Unternehmen hier welche Rolle einnimmt, ist letztlich eine Frage der Professionalität. Klar sein muss, dass Manager keine Experten für psychische Erkrankungen sind. Aus meiner Sicht müssen wir uns auf die Faktoren Information und Wiedereingliederung konzentrieren. Mit der Akzeptanz, dass wir im Arbeitsprozess nicht nur gesunde Mitarbeiter vorfinden, und dem Verständnis, dass gutes Management die Fähigkeiten und Möglichkeiten jedes einzelnen Mitarbeiters weitgehend berücksichtigt, ist bereits ein wesentlicher Schritt getan“, so Höltl.