Das Anti-Terror-Gesetz dient der türkischen Regierung als wichtiges Repressionsinstrument, um unliebsame Kritiker zu kriminalisieren. Neben Journalisten und Künstlern sind auch Anwälte ein beliebtes Ziel. In zwei derzeit laufenden Prozessen droht Anwälten, die „Feinde“ der Regierung vertreten und ihre Mandanten im Gefängnis besuchten, bis zu 22 Jahre Haft. Ein weiteres Verfahren gegen Anwälte beginnt am 22. Juni in Istanbul.
Im Juli 2015 erklärte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den Friedensprozess mit der PKK für gescheitert. Nach rund zweieinhalbjährigen Verhandlungen entflammte der Kurdenkonflikt damit neu. Besonders stark betroffen ist die südosttürkische Stadt Diyarbakir, deren Bewohner überwiegend kurdischer Abstammung sind. Feuergefechte und Ausgangssperren bestimmen den Alltag.
Medien, Anwälten, NGOs, unabhängigen Beobachtern und sogar Ärzten wird der Zugang zu den umkämpften Gebieten weitgehend untersagt. Den Journalisten, die es dennoch versuchen, wird das Equipment abgenommen und ihre Bilder werden gelöscht. Zudem wurden rund 90 News-Portale gesperrt, kurdische TV-Sender vom Satelliten genommen, Reporter zusammengeschlagen oder inhaftiert. Viele türkische Medien gehen aus Angst vor Repressionen zur Selbstzensur über.
„Informationslücken mit System“
„Diese Informationslücken haben eindeutig System. Durch das News-Embargo sind keine verlässlichen Angaben über Vorfälle, Verletzte oder Todesopfer möglich. Die türkischen Medien berichten sehr wenig und wenn, dann sehr einseitig. Den ausländischen Journalisten wird es durch fragwürdige Akkreditierungsbestimmungen sehr schwierig gemacht, objektiv und gehaltvoll aus den Krisengebieten zu berichten“, sagt Prof. Michael Enzinger, Präsident der Wiener Rechtsanwaltskammer und ergänzt weiter: „Dies stellt von Seiten der türkischen Regierung eine klare Verletzung wichtiger Grundrechte wie Presse-, Informations- und Meinungsfreiheit dar.“
Vorwand „Unterstützung einer terroristischen Organisation“
Derzeit laufen rund 2.000 Verfahren gegen Künstler, Journalisten, Anwälte, Intellektuelle, aber auch Privatpersonen. Als Begründungen für Hausdurchsuchungen und Inhaftierungen werden häufig „Unterstützung einer terroristischen Organisation“, „Spionage“ oder „Beleidigung des Präsidenten“ genannt.
KCK- und CHD-Verfahren: Anklage für Berufsausübung
Neben Journalisten sind auch Anwälte ein forciertes Ziel von Repressions-Maßnahmen der türkischen Regierung, wie zwei beunruhigende Prozess-Beispiele zeigen. Im KCK-Verfahren sind 46 türkische und kurdische Anwälte angeklagt, im CHD-Verfahren – die CHD ist eine Anwaltsvereingung, die Missstände aufdeckt und sich für Menschen einsetzt, die aus politischen Gründen verhaftet wurden – 22. Ihnen wird die Ausübung ihrer anwaltlichen Pflicht zur Last gelegt, die Verteidigung von Mitgliedern terroristischer Organisationen und der Besuch ihrer inhaftierten Mandanten. In der Logik der Regierung macht sie das selbst zu Mitgliedern terroristischer Organisationen. Die Anwälte werden also lediglich für die Ausübung ihres Berufes angeklagt.
Die Verfahren laufen bereits seit Jahren, Termine werden lediglich im Abstand von mehreren Monaten abgehalten, die Angeklagten erhalten nur teilweise Akteneinsicht. Der Wechsel von einem Sondergericht zum Ordentlichen Strafgericht für schwere Straftaten in Istanbul kostete ebenfalls viel Verfahrenszeit. Im KCK-Verfahren verbrachten Angeklagte bis zu 28 Monate in Untersuchungshaft, im CHD-Verfahren 14, obwohl es keine Anhaltspunkte für Flucht- und Verdunklungsgefahr gab. Es drohen Haftstrafen bis zu 22 Jahre. Internationale Beobachter fordern aufgrund der vielen Mängel die sofortige Einstellung der Verfahren.
Anti-Terror-Gesetz als wichtiges Repressionsinstrument
„Hier werden Terrorvorwürfe missbraucht, um unliebsame Oppositionelle zu kriminalisieren und Anwälte, die die sogenannten ‚Feinde‘ der Regierung vertreten, einzuschüchtern. Die Rechtsvertreter machen einfach nur ihre Arbeit und das wird ihnen zum Vorwurf gemacht. Unterhaltungen zwischen Anwalt und Mandant werden verbotenerweise abgehört und als Beweismittel verwendet, viele Dokumente sind der Verteidigung nicht zugänglich. Im Grunde werden so gut wie alle Vorschriften zur Wahrung der prozessualen Rechte der Angeklagten missachtet und sowohl gegen die europäische Menschenrechtskonvention als auch gegen türkisches Recht verstoßen“, sagt Prozess-Beobachter Mag. Clemens Lahner.
„Rechtsstaat wird in seinen Grundfesten erschüttert!“
Im März 2016 wurden schließlich fünf Verteidiger der KCK-Anwälte verhaftet und erst Tage später wieder freigelassen. Während dieser Zeit konnten sie einen der ohnehin spärlichen Prozesstermine nicht wahrnehmen. Das Strafverfahren gegen sie beginnt am 22. Juni in Istanbul. „Zusammengefasst verdichtet sich der Eindruck, dass die AKP-Regierung die Justiz dazu missbraucht, um gegen jegliche Kritik vorzugehen und ihre Gegner mundtot zu machen“, so Lahner. „Besonders schwer wiegt die strafrechtliche Verfolgung kritischer Anwälte, weil die Untersuchungshaft und die angedrohten langjährigen Haftstrafen potentiell geeignet sind, die gesamte türkische Anwaltschaft einzuschüchtern und davon abzuhalten, Mandate zu übernehmen, welche sie Repressalien seitens der AKP-Regierung aussetzen können. Dadurch wird der Rechtsstaat in seinen Grundfesten erschüttert.“
Dass die Anwälte in der Türkei nicht nur mit Behinderung der Arbeit und Verhaftung bedroht, sondern auch eine Gefahr für Leib und Leben ist, zeigt die Ermordung Tahir Elcis Ende November 2015. Der Präsident der Anwaltskammer Diyarbakir wurde auf offener Straße erschossen, während er einen Aufruf zur Gewaltfreiheit verlas. Die Ermittlungen verliefen bislang ohne Ergebnis. „Aufgrund von Unklarheiten im Polizeibericht sollte das Verfahren neu aufgerollt werden“, so Enzinger. „Wir fordern eine Untersuchung der Todesursache von einer internationalen und unabhängigen Instanz.“